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Psychosoziale Folgen eines radiologischen Notfalls

  • Jede Katastrophe bringt psychosoziale Belastungen von (betroffener) Bevölkerung und Einsatzkräften mit sich. Dies gilt gerade für radiologische Notfälle, da Strahlung und Unsicherheit im Umgang mit Strahlung besondere Angstauslöser sind.
  • Je mehr über die mit radiologischen Notfällen verbundenen Ängste und Sorgen informiert wird und diese bei Entscheidungen für Schutzmaßnahmen berücksichtigt werden, desto besser können negative psychosoziale Folgen verringert werden.
  • In Deutschland sollen die Planungen für die Notfallvorsorge darum auch psychosoziale Aspekte berücksichtigen.

Zwei in verschiedene Richtungen blickende Köpfe Köpfe

Jede Katastrophe bringt psychosoziale Belastungen von (betroffener) Bevölkerung und Einsatzkräften mit sich. Dies gilt gerade für radiologische Notfälle, da Strahlung sowie die Unsicherheit im Umgang damit besondere Angstauslöser sind.

Psychosoziale Folgen meist größer als physische Folgen

Untersuchungen zu den Kernkraftwerksunglücken Three Mile Island (USA, 1979), Tschornobyl (Ukraine, 1986) und Fukushima (Japan, 2011) haben gezeigt, dass die größten Folgen der Reaktorunfälle für die Gesundheit der Betroffenen nicht in der physischen Beeinträchtigung durch das freigesetzte radioaktive Material bestanden, sondern vielmehr in den psychosozialen Konsequenzen der Ereignisse.

Beobachtete Folgen der untersuchten Reaktorunfälle für die psychische Gesundheit waren

  • schwere Depressionen,
  • Angststörungen,
  • posttraumatische Belastungsstörung,
  • stressbedingte Symptome und verschiedene körperliche Beschwerden wie etwa Übelkeit, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit.

Beobachtet wurden zudem übermäßiger Alkoholkonsum und erhöhte Selbstmordraten.

Auch wenn solche Folgen häufiger vorkamen, je direkter Personen zum Beispiel durch Nähe zum Ort des radiologischen Unfalls oder ergriffene Schutzmaßnahmen betroffen waren, können sie grundsätzlich bei allen Menschen auftreten.

Dass die Untersuchungen anhand von Kernkraftwerksunglücken stattfanden, bedeutet nicht, dass psychosoziale Konsequenzen nur bei Kernkraftwerksunfällen mit überregionalen Auswirkungen auftreten können. Die Angst vor radioaktivem Material und das mangelnde Wissen sowohl über Ausbreitung und Wirkung von Radioaktivität als auch über Schutzmöglichkeiten können Menschen auch bei nur lokal oder regional bedeutsamen radiologischen Unfällen verunsichern und zu ihrer psychischen Belastung beitragen. Selbst Vorkommnisse ohne relevante Freisetzung von radioaktivem Material führen zu Verunsicherung und tragen zur psychischen Belastung bei.

Auslöser für psychosoziale Belastungen

Nach dem Kernkraftwerksunfall in Fukushima 2011 konnten im Fukushima Health Management Survey die bereits vorhandenen Einblicke in psychosoziale Belastungsfaktoren radiologischer Notfälle vertieft werden. Sie lieferten wertvolle Erkenntnisse für das radiologische Notfallmanagement. Belastungsfaktoren sind für Betroffene demnach vor allem

  • Strahlung als besonderer Angstauslöser,
  • gedankliche Verbindung eines radiologischen Unfalls mit vergangenen Reaktorunfällen,
  • geringes Wissen über die Ausbreitung und Wirkung von Strahlung,
  • Überschätzung des radiologischen Risikos,
  • Sorge um die eigene Gesundheit und/oder um Angehörige,
  • unsichere Informationslage zum aktuellen radiologischen Notfall,
  • Schutzmaßnahmen wie Evakuierung und Umsiedlung samt ihrer Folgen durch veränderte Lebensumstände und -strukturen,
  • Kritik an handelnden Behörden und zuständigen Stellen mit entsprechendem Vertrauensverlust, sowie
  • Diskriminierung und Stigmatisierung – zum Beispiel, wenn Personen im Zusammenhang mit dem Notfall als "Opfer" oder "Evakuierte" stigmatisiert werden, oder wenn sie als "Verstrahlt" diskriminiert werden und Ängste auslösen, nachdem sie möglicherweise einer erhöhten Strahlung ausgesetzt waren.

Deutschland: Notfallpläne berücksichtigen psychosoziale Aspekte

Je mehr über die mit radiologischen Notfällen verbundenen Ängste und Sorgen informiert wird und diese bei Entscheidungen für Schutzmaßnahmen berücksichtigt werden, desto besser können negative psychosoziale Folgen verringert werden.

Für die Notfallvorsorge wurde in Deutschland ein Allgemeiner Notfallplan des Bundes entwickelt, der zusammen mit Notfallplänen der Länder alle an der Notfallreaktion beteiligten Organisationen in die Lage versetzen soll, bei möglichen radiologischen Notfällen unverzüglich abgestimmte Entscheidungen zu treffen und angemessene Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung rechtzeitig durchzuführen. Neben den radiologischen Kriterien werden darin auch psychosoziale Aspekte als nicht-radiologische Kriterien bei der Entscheidung für Schutzmaßnahmen berücksichtigt.

Ein "Besonderer Notfallplan für kontaminierte Gebiete" soll diese Kriterien konkretisieren, und so helfen, auch den Schutz vor psychosozialen Folgen eines Notfalls in die Praxis umzusetzen.

Über psychosoziale Folgen zu informieren und dazu beizutragen, sie zu verringern, ist für alle Akteure des Notfall- und Katastrophenschutzes auf Bund- und Länderebene wichtig. In den Bundesländern zählen hierzu auch die Einrichtungen des allgemeinen Katastrophenschutzes, die für das Notfallmanagement auf Bundesländerebene zuständig sind.

Psychosoziale Folgen vermeiden oder besser bewältigen

Notfallschützer*innen können die (betroffene) Bevölkerung und Einsatzkräfte dabei unterstützen, psychosoziale Effekte zu vermeiden bzw. zu bewältigen, indem sie

  • Informationen über radiologische Notfälle und ihre möglichen Konsequenzen dauerhaft bereitstellen,
  • im Falle eines Notfalls insbesondere in Gebieten, in denen größere Auswirkungen möglich sind, über psychosoziale Aspekte und Bewältigungsstrategien informieren,
  • in der allgemeinmedizinischen Praxis dafür Aufmerksamkeit erzeugen,
  • mit psychosozialen Einrichtungen zusammenarbeiten,
  • mögliche Stigmatisierungen erkennen und ansprechen.

Auch Bürger*innen können selbst aktiv werden und psychosoziale Belastungen durch radiologische Notfälle vermeiden bzw. besser bewältigen, indem sie

  • sich bei seriösen Quellen über radiologische Fragen informieren: Die zuständigen öffentlichen Stellen sind neben dem Bundesamt für Strahlenschutz das Bundesumweltministerium und die zuständigen Gesundheits- bzw. Umweltschutzbehörden in den Bundesländern.
  • aktuelle radiologische Messdaten einsehen: Das Bundesamt für Strahlenschutz ermittelt mithilfe eines bundesweiten Messnetzes kontinuierlich die äußere Strahlenbelastung. Die Messwerte können unter https://odlinfo.bfs.de online eingesehen werden.

Wissenschaftliche Projekte zum Thema

Im Jahr 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit "A framework for mental health and psychosocial support in radiological and nuclear emergencies" ("Rahmenkonzept für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung bei radiologischen und nuklearen Notfällen", nur in Englisch verfügbar) Vorschläge gemacht, wie psychosozialen Belastungen bereits im Vorfeld eines möglichen radiologischen Notfalls, während eines akuten Notfalls und in der Nachunfallphase bestmöglich begegnet werden kann.

Eine Unterarbeitsgruppe der OECD-NEA (Nuclear Energy Agency) konkretisiert diese Vorschläge aktuell und versieht sie mit praktischen Hilfestellungen: "Mental health and psychosocial impacts of radiological and nuclear emergencies: NEA’s Work to build a practical extension based on a new World Health Organization framework" ("Psychische Gesundheit und psychosoziale Auswirkungen von radiologischen und nuklearen Notfällen: Die Arbeit der NEA an einer praktischen Erweiterung auf der Grundlage eines neuen Rahmenkonzepts der Weltgesundheitsorganisation", nur in Englisch verfügbar).

Konkret geht es zum Beispiel um

  • effektive Krisenkommunikation,
  • Aufgaben- und Rollenverteilung der Akteure in einem Notfall,
  • Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen der psychischen Gesundheit und des Notfallschutzes,
  • Ausbildung und Training im Bereich "Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung" (Mental Health and Psychosocial Support - MHPSS),
  • Kommunikation mit der betroffenen Bevölkerung und
  • Berücksichtigung zentraler ethischer Werte.
Stand: 22.04.2024

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